Fliegen Erklärt: Wozu haben Flugzeuge Winglets?
In dieser neuen Rubrik, die ich passenderweise Fliegen Erklärt nenne, werde ich Fragen rund um die Fliegerei beantworten. Als (angehender) Ingenieur der Luft- und Raumfahrttechnik versuche ich, besonders auf die technischen Hintergründe und Prinzipien einzugehen. Was die eigentliche Fliegerei aus Sicht eines Piloten angeht bin ich kein Experte, habe aber durch Simulatorübungen und -versuche sowie durch den ständigen Kontakt zu Piloten ein gutes Verständnis von dem, was im Cockpit abgeht. Letzte Woche habe ich über die Anordnung der Triebwerke geschrieben. In diesem Teil wird es um eine weitere Frage gehen, die in die Rubrik Flugzeugentwurf bzw. Flugzeugkonfiguration einzuordnen ist:
Welches Phänomen macht Winglets erforderlich?
Das Stichwort heißt induzierter Widerstand. Um dieses Phänomen zu erklären, muss man sich ein wenig mit der Auftriebstheorie beschäftigen. Je nach gewählter Auftriebstheorie sieht die Erklärung etwas anders aus, führt aber immer zum selben Punkt. Die einfachste Erklärung führt über die Erklärung des Auftriebs durch das Zirkulationsmodell. Dieses Modell ist eher ein mathematisches Modell als ein physikalisches Modell und setzt einige Annahmen voraus, die in der Realität nicht zutreffend sind. So wird die Strömung als wirbelfreie Potentialströmung angenommen und das Problem von einer 2D-Strömung ausgehend betrachtet, was aber vor allem bei langsamen Fluggeschwindigkeiten und Flügeln mit großer Streckung (wie bei Segelflugzeugen) quantitativ gute Näherungsergebnisse liefert. Eine physikalisch saubere Beschreibung des dynamischen Auftriebs in einer 3D-Strömung ist nicht wirklich möglich. Für die qualitative Herleitung des induzierten Widerstands ist das Modell aber das anschaulichste.
Nach dem Theorem von Kutta-Joukowsky ist der erzeugte Auftrieb pro Breiteneinheit des Flügels proportional zur Anströmgeschwindigkeit und der Zirkulation an der Stelle. Was ist die Zirkulation? Physikalisch gesehen stellen sich aufgrund des Flügelprofils eine Strömung mit hoher Geschwindigkeit und niedrigem Druck an der Oberseite und eine Strömung mit niedriger Geschwindigkeit und hohem Druck auf der Flügelunterseite ein. Aufgrund des dadurch entstehenden Druckunterschiedes möchte die Luft an der Flügelunterseite nach oben strömen. Prinzipiell strömt Luft schließlich immer von Hochdruck- zu Tiefdruckgebieten (Stichwort Wind). Da jetzt aber der Tragflügel im Weg ist, wird der Tragflügel quasi „angehoben“. Physikalisch gesehen entsteht also eine senkrecht nach oben gerichtete Auftriebskraft. Mathematisch lässt sich das Problem über die blau eingezeichnete Zirkulation beschreiben, die eine nach oben gerichtete Kraft induziert (da hätten wir schon mal das Wort induziert benutzt!). Die Zirkulation wird dabei als Ersatzgröße genutzt, um den Auftrieb zu beschreiben. Im Endeffekt führt man einen komplexen Tragflügel durch die Rotation wieder auf den rotierenden Zylinder zurück.
Für einen gesamten Flügel integriert man nun die Zirkulation über die Flügelbreite. Es ergibt sich eine Zirkulationsverteilung wie im Bild unten dargestellt. Wichtig ist, dass die Zirkulation am Flügelende Null wird. Anschaulich wird das dadurch erklärt, dass es am Flügelende einfachere Wege für die Strömung gibt, um zum Tiefdruckgebiet zu kommen, als durch den Tragflügel hindurch. Die Strömung kann ja einfach am Flügelende außen vorbei. Damit wird an dieser Stelle kein Auftrieb erzeugt (niemand hebt den Flügel an, alle strömen dran vorbei) und die Zirkulation muss dementsprechend Null sein.
Der induzierte Widerstand ergibt sich nun durch einen hässlichen Nebeneffekt dieser Ausgleichsströmungen am Flügelende. Die Ausgleichsströmung erzeugt Wirbel, die von der Strömung nach hinten weggetragen werden und sich zu immer größeren Wirbeln aufrollen. Andere Flugzeuge im Nachlauf nennen das dann Wirbelschleppen. Am eigenen Flugzeug kann man diese Wirbel auch wieder als Zirkulation beschreiben. Diese Wirbel induzieren durch ihren Drehsinn eine Abwärtsgeschwindigkeit w, welche den Auftriebsvektor A nach hinten kippt – um die Größe W_induziert, den induzierten Widerstand (der Auftriebsvektor steht immer senkrecht auf der Anströmgeschwindigkeit, welche durch w gekippt wird).
Ohne die technischen Details: Der Auftrieb wird durch einen Druckunterschied zwischen Flügelober- und Flügelunterseite erzeugt. Am Flügelende bilden sich durch die Ausgleichsströmungen Randwirbel, die eine nach unten zeigende Geschwindigkeit induzieren. Diese nach unten zeigende Geschwindigkeit reduziert den Auftrieb, den der Flügel produziert, um eine Größe, die sich induzierter Widerstand nennt.
Was kann man dagegen machen?
Bevor wir zu den Winglets kommen: Wir haben den induzierten Widerstand mathematisch beschrieben. Jedes mathematisch formulierte Problem hat eine oft sinnfreie, aber dennoch legitime theoretische oder triviale Lösung. In diesem Fall wäre diese Lösung der unendlich lange Tragflügel, bei dem die Zirkulation an keiner Stelle Null wird, da keine Ausgleichsströmung an den Flügelenden stattfinden kann. Damit gäbe es auch keinen induzierten Widerstand. Nun können wir keine unendlich langen Flügel bauen, aber große Streckungen helfen tatsächlich gegen den induzierten Widerstand.
Die Winglets sind vom Prinzip her nichts anderes als die Antwort auf die Frage, wie man diese Ausgleichsströmungen noch unterbinden kann: Man baut einfach etwas in den Weg. Wie dieses etwas genau aussieht, hängt dann vom Flugzeughersteller ab. Mittlerweile ist die Rechenleistung so groß, dass man auch komplexere Geometrien als Winglets à la A330 oder Boeing 767 berechnen kann (und man kann sie auch fertigen). Daher sieht man bei neueren Flugzeugen wie der Boeing 787 andere Lösungen, die eventuell besser in den gesamten Flügel integriert sind. Bei Nachrüstungen wie an der 737 oder der A320 kann man dagegen den eigentlichen Flügel nicht verändern, weswegen dort traditionelle Winglets nachgerüstet werden. Bei der 737-MAX hat man die Winglets noch ein bisschen verfeinert.
Winglets verbessern den Treibstoffverbrauch, indem sie den induzierten Widerstand reduzieren.
Gibt es auch Nachteile?
Winglets haben eine nicht zu unterschätzende Masse. Jede Zusatzmasse, die transportiert wird, ist schlecht für den Treibstoffverbrauch. Außerdem kann diese Masse eventuelle Strukturverstärkungen im Flügel erforderlich machen. Böse Zungen behaupten daher, dass traditionelle Winglets netto wenig bis gar nichts bringen, aber fürs Marketing der Airline gut sind („Hey, wir machen etwas für die Umwelt“). Zumal man jetzt auf jedem Instagram-Foto, das aus einem Flugzeug geschossen wurde, unweigerlich das Logo und den Namen der Airline sieht!
Wenn euch irgendwelche Fragen auf dem Herzen liegen oder irgendwelche Themen brennend interessieren: Ich bin für Vorschläge immer offen!