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Ein paar technische Erklärungen zur Boeing 737 MAX

Flughafen Seattle

Über das Grounding der Boeing 737 MAX 8 wird in den Medien momentan viel berichtet. Gerade in den Kommentarbereichen haben sich jedoch leider Behauptungen durchgesetzt, die nicht ganz der Wahrheit entsprechen.

Flughafen Seattle
Flughafen Seattle

Was oft behauptet wird

Viele Kommentare lesen sich mehr oder weniger so:

Boeing wollte aus Kostengründen die 737 NG weiterentwickeln, anstatt ein komplett neues Modell zu entwerfen. Die neuen Triebwerke wurden eigentlich für den Airbus A320 neo entworfen und passen nicht unter den Flügel einer 737. Deshalb wurde das Triebwerk vor den Flügel gesetzt, was das Flugzeug durch den geänderten Schwerpunkt ohne Softwarehilfen nicht richtig steuerbar macht. Eine der Softwarehilfen (MCAS) ist zudem noch fehlerhaft und das Flugzeug ist im Fehlerfall komplett unfliegbar.

Darauf folgen meistens böse Worte in Richtung Boeing und der amerikanischen Luftfahrtbehörde, der FAA.

Ich möchte mich nicht an den Spekulationen über Unfallursachen usw. beteiligen. Ich möchte allerdings ein paar Dinge geraderücken, die leider viel zu oft wiederholt werden.

1. Niemand entwirft absichtlich ein unsicheres Flugzeug

Dieser Punkt sollte eigentlich selbstverständlich sein, aber ich habe das Gefühl, dass manche Leute den Ingenieuren von Boeing und den Angestellten der FAA vorwerfen, dass diese aus Kostengründen bewusst ein unsicheres Flugzeug entworfen und zugelassen hätten.

Wer mal in der Branche gearbeitet hat, wird wissen, dass regelmäßig abenteuerlich klingende Lösungen und Verbesserungen genehmigt werden. An der Boeing 737 NG (vielleicht auch schon früher) gibt es zum Beispiel ein System, das dafür sorgen soll, dass man das Fahrwerk nicht einfahren kann, wenn ein Stück Profil an einem Reifen lose ist. Da sich die Räder beim Einfahren ja noch drehen, könnte das im Flugzeugrumpf zu Beschädigungen führen. Deshalb gibt es einen kleinen Pin in der Hydraulikleitung am Fahrwerksbeim. Dieser soll beim Einfahren des Fahrwerks von eventuell losen Reifenteilen rausgeschlagen werden, woraufhin dann Hydraulikflüssigkeit ausläuft und das Fahrwerk wegen zu geringem Hydraulikdruck nicht eingefahren werden kann…

Falls dieses System mal in einem Unfallbericht erwähnt werden sollte, wäre das Geschrei ganz sicher genauso groß. Der springende Punkt ist: Nicht alles, was ungewöhnlich oder für den Laien unsicher klingt, ist unsicher. Die Zulassungsverfahren gibt es ja auch nicht ohne Grund.

Triebwerk einer 737-800
Triebwerk einer 737-800

Nun sind Menschen nicht perfekt und machen auch im Flugzeugbau immer mal wieder Fehler. Nicht alle Konstruktionsmängel werden in den Analysen und Zulassungstests gefunden und behoben. Manche Dinge werden eben erst entdeckt, wenn das Flugzeug schon im Dienst ist. Manchmal gibt es zum Beispiel Probleme mit Materialermüdung oder irgendwelchen einzelnen Bauteilen, die zu häufig ausfallen. Die Behörden können dann mittels Airworthiness Directives die Betreiber der Flugzeuge dazu bringen, die nötigen Verbesserungen zu installieren. Nichts anderes geschieht jetzt auch mit der Boeing 737 MAX, nur dass wir es hier vermutlich mit einem schweren Designfehler zu tun haben.

Sicher wird man sich jetzt genau angucken, wie die betroffenen Systeme zugelassen wurden. Es ist wichtig zu erfahren, wer beteiligt war und welche Tests und Analysen durchgeführt wurden. Sicherlich gibt es die Möglichkeit, dass dort von der FAA und von Boeing Fehler begangen wurden. Man darf aber nicht vergessen, dass Boeing seit mehr als 100 Jahren überaus sichere Flugzeuge baut und die FAA über Jahrzehnte hinweg Standards in Sachen Zulassungsvorschriften und Luftsicherheit gesetzt hat. Dieser gute Ruf steht jetzt auf dem Spiel. Schon jetzt ist klar, dass die Boeing 737 MAX sowohl für Boeing als auch für die FAA ein Desaster ist. Vorwürfe der Mutwilligkeit sind aber völlig unangebracht.

2. Die Boeing 737 MAX hat (k)ein verkorkstes Design

Die Boeing 737 stammt ursprünglich aus den 60er Jahren. Das damalige Design stößt trotz aller Weiterentwicklungen mittlerweile an seine Grenzen. Dass man die 737 nicht ewig bauen kann, weiß auch Boeing. Die 737 MAX ist sicherlich nicht das Flugzeug, das Boeing gerne entworfen hätte.

Eigentlich hätte man lieber ein neues Flugzeug entworfen, aber man musste kurzfristig ein Konkurrenzmodell zum A320 neo schaffen, der ja auch nur ein verbesserter A320 ist. Mit der 787 und der 777X hat Boeing ohnehin schon sehr kostspielige Programme am Laufen. Da ist es verständlich, den Kassenschlager nur leicht auffrischen zu wollen. Airbus hat schließlich auch nichts anderes getan.

Die Triebwerke der 737 MAX waren tatsächlich für den A320 neo gedacht, der viel mehr Bodenfreiheit als die 737 hat. Dort passen die Triebwerke gar nicht unter den Flügel, also hat man sie eben davor gesetzt. Soweit stimmt der Gedankengang in den Leserkommentaren auch. Aber:

Es ist nicht falsch, gefährlich oder mechanisch unmöglich, dass man die Triebwerke vor den Flügel hängt.

Die Argumentation mit der veränderten Schwerpunktlage ist falsch. Für den Schwerpunkt des Flugzeugs gibt es eine vordere und eine hintere Grenze (Steuergrenze und Stabilitätsgrenze). Liegt der Schwerpunkt zu weit hinten, ist das Flugzeug instabil. Liegt er zu weit vorne, ist das Flugzeug zu stabil (d.h. die Höhenruderausschläge zeigen keine Wirkung mehr, Flugzeug ist nicht steuerbar).

Der Schwerpunkt muss auf jeden Fall vor dem Neutralpunkt des Flugzeugs liegen (dort greifen die Auftriebskräfte an). Die meisten Flugzeuge haben einen Schwerpunktsbereich von ~15-40% der Bezugsflügeltiefe (die Tiefe eines rechteckigen Ersatzflügels mit gleicher Flügelfläche und gleichem Momentenverhalten wie der Originalflügel). Der Schwerpunkt wandert ja auch je nach Beladung und Betankung.

In der Abbildung fehlt noch der Schubvektor, der meißt nicht in der Schwerpunktsachse liegt und in der Regel auch nicht ganz parallel dazu verläuft. Im Momentengleichgewicht haben wir also die Auftriebskraft der Flügel-Rumpf-Gruppe, die Auftriebskraft des Höhenleitwerks, die Gewichtskraft des Flugzeugs und evtl. den Schubvektor.

Bildquelle: Flugmechanik II Skript, TU Berlin
Bildquelle: Flugmechanik II Skript, TU Berlin

Die vordere Schwerpunktsgrenze wird definiert durch die Forderung nach Trimmbarkeit. Trimmen heißt, dass man das Höhenleitwerk so dreht, dass es genau so viel Auftrieb produziert wie nötig ist, um das Nickmoment Null werden zu lassen (dann nickt das Flugzeug nicht mehr auf oder ab). Je nach Flugzustand kann das Höhenleitwerk entweder Auftrieb oder Abtrieb erzeugen. Das muss im gesamten Flugbereich und allen Konfigurationen (Fahrwerk, Klappen usw.) gegeben sein. Diese Schwerpunktsgrenzen müssen in den Zulassungsverfahren nachgewiesen werden. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass die 737 MAX hier fundamentale Probleme hat.

Das Problem mit den Triebwerken liegt eher in Interferenz zwischen Triebwerk und Flügel. Ein vor dem Flügel liegendes Triebwerk stört die Anströmung des Flügels mehr als ein Triebwerk, das komplett unter dem Flügel hängt. Diese Interferenz hat Auswirkungen auf die aerodynamischen Eigenschaften des Flugzeugs, insbesondere auf das sogenannte Stallverhalten. Vom Stall (Strömungsabriss) spricht man, wenn die Strömung der Flügelkontur nicht mehr folgen kann und „abreißt“, woraufhin man schlagartig Auftrieb verliert.

Im Flugbereichsdiagramm kann man links die Stallgrenze (Auftriebsgrenze) als Funktion von Flughöhe und Machzahl sehen. Gerade in den Grenzbereichen kann es schnell gefährlich werden. Viele moderne Flieger haben deshalb Flight Envelope Protections (Flugbereichsschutzfunktionen). Das in der Boeing 737 MAX verbaute MCAS ist ein solches System.

Bildquelle: Flugmechanik I Skript, TU Berlin
Bildquelle: Flugmechanik I Skript, TU Berlin

Der Hauptgrund für die MCAS-Regelung im Bereich der Auftriebsgrenze ist laut Boeing, dass sich das Flugzeug in diesem Bereich des Flugbereichsdiagramms sehr anders verhält als die Boeing 737 NG. Was „anders“ im Detail heißt, wissen wahrscheinlich die Ingenieure von Boeing am besten. Es heißt aber nicht zwingend, dass das Flugzeug gefährlich ist (der Stallbereich ist ja an sich schon gefährlich).

Da beide Flugzeugtypen mit einem Type Rating (eine flugzeugspezifische Lizenz für Piloten) geflogen werden sollen, müssen sie sich aber auch im Stallbereich ähnlich verhalten. Das Flugzeug darf den Piloten in einer Stallsituation keine im Vergleich zur 737 NG grundsätzlich anderen Flugmanöver abverlangen oder erlauben. Daher greift in einer solchen SItuation das MCAS ein und unterstützt die Piloten. Solche Systeme gibt es beim Airbus A320 schon seit der Markteinführung (Alpha Floor Protection).

3. Boeing hat Fehler begangen

Die MCAS-Software hat einen Designfehler, so viel ist klar. Wo genau die Fehler liegen, wird gerade untersucht. Abgesehen von den möglichen Softwarefehlern gibt es aber noch ein paar andere wichtige Erkenntnisse. Ich fasse mal zusammen, was wir bisher wissen:

  • Das System nutzt nur die Daten von einem der drei Anstellwinkelsensoren. Wenn dieser fehlerhafte Daten liefert, denkt das MCAS, dass das Flugzeug sich im Stallbereich befindet und leitet Gegenmaßnahmen ein – auch wenn das Flugzeug sich nicht im Stallbereich befindet. Wieso hier keine redundante Lösung implementiert wurde, ist eine sehr gute Frage.
  • Die Piloten wussten von diesem neuen System ursprünglich nichts. Erst nach dem Lion Air Crash fügte Boeing entsprechende Hinweise in die Handbücher ein und bot Nachschulungen für Piloten an.
  • Das MCAS kann deaktiviert werden, allerdings scheinen die notwendigen Schritte nicht sehr intuitiv zu sein. Mangels MAX-spezifischen 737-Simulatoren (es gibt weltweit nur vier Stück) können die meisten Piloten das auch nicht üben.
  • Die Boeing-Methode „Im Zweifel einfach das MCAS deaktivieren“ halte ich für gefährlich. In einer so kritischen Situation sollte man nicht den Piloten auch noch damit beschäftigen herauszufinden, ob denn das MCAS gerade richtig angeschlagen hat oder nicht. Anstelle des manuellen Ausschaltens sollte das System lieber sauber programmiert werden und aus mehreren Quellen gefüttert werden. Warum Boeing hier gespart hat, ist mir nicht klar.
  • Nicht alle ausgelieferten 737 MAX haben Sicherheitsfeatures wie die zusätzliche Anstellwinkelanzeige, die in den Unfällen vielleicht geholfen hätten.
  • Die Kombination aus hohem Umgebungsdruck (niedrige Flughöhe) und hoher Fluggeschwindigkeit (Piloten/MCAS erhöhen den Schub und senken die Nase bei Strömungsabrisswarnungen) könnte bei den Unglücksmaschinen zum Blowback-Effekt geführt haben. Die Motoren für die Steuerflächen sind in dieser Situation zu schwach, um die Steuerflächen zu verstellen, da sie gegen einen zu hohen Gegendruck ankämpfen müssen.

Airberlin Boeing 737

4. Computer haben die Fliegerei sicherer gemacht

Auch wenn es jetzt wieder verlockend erscheinen mag, gegen die Automatisierung und die vielen Computerhilfen in der Fliegerei zu wettern: Die vielen Computer haben die Lutfahrt sicherer gemacht. Natürlich gibt es die Gefahr von Softwarefehlern oder Fehlern in der Mensch-Maschine-Interaktion (z.B. Air France 447), aber diese Systeme haben auch viele Menschenleben gerettet. Darüber schreibt nur kaum jemand, da ein Nicht-Absturz es ja nur selten in die Nachrichten schafft.

Beispielsweise wäre eine Air France 777 mal fast in einen Berg geflogen, wurde aber durch ein Computersystem (GPWS) rechtzeitig vor der bevorstehenden Kollision gewarnt. Die oben erwähnte Alpha Floor Protection (ähnlich wie MCAS) hat schon einige Flieger vor einem Strömungsabriss geschützt. Das Kollisionswarnsystem TCAS entschärft regelmäßig Situationen, in denen sich zwei Flugzeuge auf Kollisionskurs befinden. Die Liste ist lang.

Fazit

Der aktuelle Stand der Dinge ist: Die Boeing 737 MAX scheint einen schwerwiegenden Softwarefehler zu haben. Darüber hinaus waren die Piloten über lange Zeit hinweg nicht über das MCAS informiert und sind wohl auch heute noch mangels Trainingsmöglichkeiten nicht ausreichend im Umgang mit diesem System geschult. Abgesehen davon gibt es aber momentan keinen Grund davon auszugehen, dass die Boeing 737 MAX ein grundsätzlich unsicheres Flugzeug wäre.

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